Dem Zuckergefängnis entfliehen

Die Ketose als Therapie

Das Wissen um die ketogene Diät gehört ebenso wie die ernährungstherapeutischen Konsequenzen aus den Erkenntnissen zum Warburg-Effekt zu den Großbaustellen der Ernährungswissenschaft und der etablierten Medizin in Deutschland. Das ist bedauerlich, besonders für Patienten in der Onkologie, denn die ketogene Diät hat das Potential, jede Krebstherapie sinnvoll unterstützen zu können. Nachdem in der letzten Ausgabe die Warburg-Hypothese und ihre Konsequenzen im Fokus standen, blicken wir nun primär auf die Ketose als besondere, natürliche Stoffwechselsituation.

Die Ketose ist eine physiologische Stoffwechselsituation, die durch den Anstieg der Ketonkörper (Acetoacetat, Aceton und 3-Hydroxybutyrat) in Blut und ECM gekennzeichnet ist. Diese chemischen Verbindungen können in katabolen Stoffwechsellagen, etwa bei Nahrungsmittelknappheit, kohlenhydratarmer Ernährung oder erhöhten Leistungsbedingungen einen beträchtlichen Teil der vom Organismus benötigten Energie bereitstellen und Glukose als primäre Energiequelle ablösen.

Über einen Zeitraum von 2,5 Millionen Jahren prägte die Ketose die natürliche Stoffwechsellage des Menschen. Dies war eine Zeit, in der nicht an jeder Ecke Fast-Food-Läden und Bäckereien bereitstanden, um das glukotoxisch verprägte Gehirn mit Zucker zu überfrachten. Die Nutritional Ketosis, wie sie inzwischen in Abgrenzung zur Hungerund Fastenketose bezeichnet wird, bildete für die Enzephalisierung, also für die Zunahme von Hirngewicht und der anatomisch-physiologischen Hirndifferenzierung beim Menschen, eine entscheidende Voraussetzung und hat diese überhaupt erst möglich gemacht. „Ohne die Ketone als Energiequelle“, schreibt Dr. Mary Newport, „wäre es sehr unwahrscheinlich, dass es die Gattung Mensch noch gäbe, zumindest nicht mit den heutigen großen Gehirnen und der hohen Intelligenz.“ 1

Im Zuckergefängnis: Die Geschichte der Ernährung

Im Folgenden wollen wir die Geschichte der Menschheit einmal aus Perspektive der Entwicklung der Ernährung anhand der dominierenden Stoffwechsellage betrachten. Aus diesem Blickwinkel lassen sich m. E. drei große Epochen voneinander abgrenzen: das Ketogene, das Glukozentrische und das Glukotoxische Zeitalter.

Das Ketogene Zeitalter fand sein Ende mit der neolithischen Revolution zu Beginn der Jungsteinzeit vor etwa 12.000 Jahren. Die umherziehenden Wildbeuter wurden zu sesshaften Bauern, es vollzog sich ein langsamer Übergang zur Nutzung von Getreide als Grundnahrungsmittel. Der Siegeszug der Kohlenhydrate hatte begonnen. Für die darauf folgende, lange Epoche vom Neolithikum bis etwa ins Jahr 1850 kann man vom Glukozentrischen Zeitalter sprechen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wird diese Epoche abgelöst durch den Einstieg in die industrielle Produktion von Getreide und raffiniertem Zucker. Die pastorale Weidewirtschaft wich der sogenannten „konventionellen Landwirtschaft“ (der Begriff ist ein Euphemismus), deren fatale Auswirkungen seit den 1970er-Jahren durch die Entwicklung von transgenem Weizen, genmanipuliertem Soja und High Fructose Corn Syrup (Monsanto) noch einmal gesteigert wurden. Den Zeitraum von 1850 bis heute kann man treffend als das Glukotoxische Zeitalter bezeichnen.

Während die Glykolyse unter dem Diktum der glukozentrischen Denkweise der erste Stoffwechselweg war, dessen Ablauf bereits zum Ende des 19. Jahrhunderts als aufgeklärt galt, dauerte es mit den Ketonen und dem Proteinstoffwechsel um einiges länger. Gleichwohl hatte man den Ketonstoffwechsel bereits zwischen 1946 und 1968 durch Peter & Van Slyke (1946), Lynen & Ochoa (1953), Lehninger & Greville (1953) und Campbell & Best (1956)2 sowie nicht zuletzt durch Owen & Cahill (1967)3 an der Harvard Medical School in seinen Grundzügen entschlüsselt. Bahnbrechende Arbeiten über den Gehirnstoffwechsel u. a. durch Cahill folgten. Die Erkenntnisse daraus sind jedoch bis heute nicht in die Lehrbücher vorgedrungen.4

Schreckgespenst Ketoazidose

Ein weiterer, die Rezeption der Ketoseforschung behindernder Umstand kommt erschwerend hinzu: Die Ketone haben die Weltbühne der Medizin zusammen mit dem Urin von Diabetikern betreten und wurden lange Zeit fälschlicherweise als Anzeichen ausschließlich pathologischer Veränderungen interpretiert – quasi als Substrate einer unvollständigen Oxidation. Noch heute lernen Ärzte an den Universitäten, dass „Fette im Feuer der Kohlenhydrate verbrennen“. Ärzte, schreibt Veech daher auch treffend, hätten immer nur Angst vor der Ketoazidose.

Aus Sicht der Schulmedizin ist die Ketoazidose eine lebensgefährliche Entgleisung des Fettstoffwechsels, die vor allem bei Diabetes Typ I, in selteneren Fällen auch bei Alkoholikern auftreten kann. Bei niedrigem Insulinund hohem Glukagonspiegel kann der Ketonspiegel in Ausnahmefällen auf bis zu 10, manchmal sogar bis auf 25 mmol /l lebensbedrohlich ansteigen. Dabei verhindert der hohe Blutzuckerspiegel die Verwertung der Ketone in den Geweben. Wenn jedoch ein hoher Blutzuckerspiegel die Verwertung der Ketonkörper inhibiert, dann ist die Ketoazidose genau genommen eine Entgleisung des Zuckerstoffwechsels, nicht des Fettstoffwechsels. Der Fettstoffwechsel wird lediglich durch den hohen Glukosespiegel aufgrund des absoluten Insulinmangels bei Typ-I-Diabetes mit in den Abgrund gezogen. Ein Vergleich der verschiedenen Ketose-Zustände in Tabelle 1 macht die Unterschiede zwischen dem weiten Feld eines durch Nutrional Ketosis (NK) erreichbaren Ketonspiegels und dem pathologischen Geschehen einer Ketoazidose deutlich.

Ketoadaption: Die Ketone in den Geweben nutzen

Eine Nutrional Ketosis (NK) tritt physiologisch unter Ernährungs- und Leistungsbedingungen ein, bei denen Glukose knapp  wird und infolgedessen der Insulinspiegel sinkt, respektive der Fett- stoffwechsel so weit in Gang kommt, dass er überschüssiges

Acetyl-CoA in Ketonkörper umwandelt, die dann in den Geweben zur Einspeisung in den Zitratzyklus wieder zurückverwandelt werden. Dass wir von einem Nährstoff am meisten essen, den wir im Grunde am wenigsten benötigen, gehört zu den fatalen Irrungen einer im Zuckergefängnis gefangenen Gesellschaft: „There is”, schreibt John Brosnan, „strictly speaking, no dietary requirement for carbohydrate. Gluconeogenesis is capable of supplying the body with adequate amounts of glucose.” 5 Eine NK ist demnach auch ohne Hungern erreichbar, wenn man Kohlenhydrate stark oder sehr stark reduziert und /oder die Leistung entsprechend er- höht (Post-Exercise-Ketosis).

Normalerweise wird auch aus Nahrungsproteinen Glukose erzeugt, deshalb nutzen wir in unserem Ernährungskonzept der dr. reinwald metabolic regulation zusätzlich noch MyAMINO ®, ein Aminosäurepräparat, das nahezu keinen Stickstoffabfall und keine Glukose liefert (1 % gegenüber bis zu 84 % bei pflanzlichen Proteinen). Das ermöglicht es uns, selbst bei Tumoren, bei denen die klassische ketogene Diät viel zu riskant wäre (etwa beim Pankreas- oder Leberkarzinom), eine optimale Proteinversorgung zu gewährleisten, da MyAMINO ® weder Peptidasen benötigt noch die Leber oder Nieren mit Stickstoffabfall belastet. Auf diese Weise lässt sich quasi„fasten ohne zu fasten“. Und es hilft, die Gefahren der Tumorkachexie einzugrenzen.

Ein entscheidender Schritt zur reibungslosen Nutzung von Ketonen in den Geweben ist der Durchlauf durch einen Prozess, der als Ketoadaption bezeichnet wird. In der Literatur wird allgemein davon ausgegangen, dass dies beim Erwachsenen bis zu drei Wochen dauern kann. Cahill & Aoki haben in den 1980er-Jahren mithilfe von Insulininfundierung bei Ketose aufgezeigt, dass selbst bei Erwachsenen Blutzuckerspiegel bis 25 mg/dl, bei manchen Probanden sogar bis 20 mg /dl, toleriert werden, ohne neurologische Ausfallerscheinungen, wenn der Ketonspiegel entsprechend hoch (4,5 – 5,0 mmol / l) und die Ketolysefähigkeit vorhanden ist.6

Die Übergänge zwischen den Stoffwechsellagen müssen reibungs- los ablaufen, was sie aber aufgrund unserer Fehlernährung nicht mehr tun. Der Grund für die Erfordernis der Ketoadaption liegt in dem durch Zuckerverprägung erworbenen Verlust der Ketolysefähigkeit der Gewebe, insbesondere des Gehirns. Die Unfähigkeit, Ketone übergangslos zu verstoffwechseln, ist dem Mangel an dafür erforderlichen Enzymen geschuldet: den mitochondrialen 3-Hydroxy-3-Methylglutaryl-Coenzym-A-Transferasen. Man bedenke: Säuglinge an der Mutterbrust sind grundsätzlich in der Ketose. Man muss an dieser Stelle als verantwortlicher Therapeut schon etwas durchatmen, wenn man bedenkt, wie sehr sich der Fettstoffwechsel im tödlichen Zangengriff von etablierter Medi- zin und Futtermittelindustrie befindet. Erstere greift die Produktion von Cholesterin über die Inhibierung der cytosolischen HMGA- CoA-Reduktase mittels Statinen an, während Letztere über Carb- Overfeeding dazu beiträgt, die Ketolysefähigkeit des Gehirns und anderer Gewebe zu schädigen

Ernährung / StatusKetonspiegel mmol / l
moderate KH-Ernährung (nüchtern)
0,1 – 0,5
Fastenstatus mehrere Wochen: Hungerketose
5,0 – 7,0
sehr niedrige KH-Ernährung unter 50 g / Tag (Nutritional Ketosis / Post-Exercise-Ketosis)
0,5 – 3,5
sehr niedrige KH-Ernährung mit MyAMINO® (Therapeutische Ketose)
1,0 – 8,0
Ketoazidose (Insulinsuffizienz, Typ 1 Diabetes)
10,0 – 25,0
  • Ketone haben diverse neuroprotektive Merkmale und verbessern zudem die Mitochondrienfunktion
  • Ketonstoffwechsel benötigt 3 Enzymschritte, der Glukosestoffwechsel 11
  • Steigerung antioxidativer Kapazität bis 50 %, Reduktion tox. ROS um 55 %
  • Steigerung der noradrenergen, hemmenden GABAergen Erregungsübertragung
  • im Hippocampus von Ratten: 4-facher Anstieg der Glutathionperoxidase
  • Wechsel im Energiestoffwechsel von Glukose zu Ketonen generiert allgemeinen Wechsel in der Exzitabalität des Gehirns
  • Entkoppelung der Cytochrome-Oxidase und Shift zu ATP anstatt zu Wärme über das Uncoupling Protein (UCP) um 55 % (Gegenteil aerober Tumore)
  • Steigert die Aktivität der Na+ / K+-Pumpe sowohl in Neuronen als auch in Gliazellen – dies wiederum steigert das Membranpotential und senkt die Exzitabilität
  • Ketonstoffwechsel inhibiert Phosphofruktokinase und senkt damit die Stoffwechselrate der Glykolyse (bei besserer O2-Ausbeute weniger Radikale)
  • Ketonmetabolismus inhibiert den Eintritt von Pyruvat in den Citratzyklus und senkt die Glucose-Oxidationsrate

Die Ketogene Diät findet inzwischen Verwendung bei zahlreichen Erkrankungen:

  • Leukodystrophie: degenerativer Abbau der weißen Substanz des Gehirns
  • Kognitive Störungen: bei Diabetes Typ I und basalem Insulin < 1 mmol /l
  • Parkinson: Defekte im mitochondrialen NADH-Multienzym- Komplex können abgemildert werden (OXPHOS I + II)
  • Leprechaunismus und weniger ausgeprägte Formen der Insulin-Resistenz: Umgehung der GLUT-Transportwege, Steigerung der MCT1-Transportwege
  • zudem Einsatz bei: Multipler Sklerose, Amyotrophe Lateralsklerose, Kopftraumen, Schlaganfall, kardiovaskulären Erkrankungen, Diabetes Typ 2, Alzheimer, Depressionen, Akne usw.

Die Gefahr der Tumorkachexie

Die Gratwanderung zwischen Kalorienrestriktion und der Gefahr einer Tumorkachexie muss sorgsam im Auge behalten werden. Tumore sind enorme Stickstofffallen. Sie nehmen jedoch keine Aminosäuren auf, sondern vor allem komplexere Eiweiße wie Albumin, und zwar durch Pinozytose. Unter striktem Nahrungsentzug verliert der Patient im fortgeschrittenen Tumorgeschehen täglich etwa 5 % seiner Körpermasse an Eiweiß. Die Stickstoffbilanz von Tumorzellen ist daher im Gegensatz zu gesunden Zellen grundsätzlich positiv, selbst bei vollständiger Nahrungskarenz. Reines Fasten geht, auch wenn man dem Tumor damit einen wichtigen Teil seiner Nahrung entzieht, immer zulasten des Patienten. Der Tumor kannibalisiert seinen Wirt, ohne Rücksicht darauf, ob dieser nun isst oder nicht. Diese Entwicklung aber können wir mit der Substitution von MyAMINO ® vermeiden, da es als extrem kalorienarme Aminosäureformel zu einer Reduzierung der Glukoselast aus Nahrungsproteinen kommt und dennoch ein Aufbauprofil von 99 % Proteinnährwert liefert. Dadurch ist eine milde bis sehr hohe Ketose bei niedrigster Kalorienzufuhr ohne Gefahr der Auszerrung möglich, weil anabole Prozesse mithilfe von MyAMINO ® bedient werden können, ohne zugleich die Ausscheidungsorgane mit Stickstoffabfall aus Nahrungsproteinen zu belasten.

Tumorzellen nehmen das 16-fache mehr an Zucker auf als gesundes Gewebe. Die Abgabe von Laktat liegt mit der 24-fachen Menge weit über der Norm. Fettsäuren werden zwar aufgenommen, die Aufnahme entspricht aber der Abgabe, d. h. die Nettoverwertung liegt bei null. Tumore sind zur De-novo-Lipogenese über die Substratzufuhr aus dem PPW und der Glutaminolyse in der Lage, erzeugen demnach Fett aus Zucker und Glutamin. Krebszellen sind wie die Hepatozyten in der Lage, das für die Fettsynthese erforderliche Enzym FAS (Fatty Acid Synthase) selbst herzustellen. Ketone werden zwar ebenfalls aufgenommen, es werden aber wie bei den FS mehr abgegeben, eine Nettoverwertung findet demnach nicht statt.7

Resümee

Die Sensibilisierung von Tumorzellen gegenüber zytotoxischen Maßnahmen ist eine inzwischen bekannte und sogar bei Schulme- dizinern beliebte „Nebenwirkung“ der Ketose. Der Krebszelle geht schlicht und ergreifend die Kraft aus, sich in Resistenz gegenüber Chemotherapie zu halten. Die Ansprechrate gegenüber Gemcita- bin etwa ist in der Ketose deutlich erhöht.8   Wenn ein Tumor also   in erster Linie von Kohlenhydraten und körpereigenem Eiweiß lebt, dann ist doch eine Ernährungsintervention im Sinne einer KD oder HKD in jedem Fall zielführend, zumal mit dem Ernährungsbaustein MyAMINO ®. Aus diesen Erkenntnissen sollte jeder verantwortungs- volle Therapeut ernährungstherapeutische Schlüsse ziehen:

  • so wenig Kohlenhydrate und Einfachzucker wie möglich zuführen,
  • körpereigenes Eiweiß durch eine ausreichende Zufuhr von Nahrungsproteinen schützen (wegen seiner einzigartigen Eigenschaften sei MyAMINO ® empfohlen),
  • genügend Fette verabreichen, vor allem Fette mit mittelkettigen Fettsäuren (etwa Kokosöl).


Literatur

  1. Newport M (2012): Alzheimer vorbeugen und behandeln: Die Keton-Kur. VAK Verlag
  2. Krebs HA (1961): The Physiological Role of the Ketone Bodies. Biochem. J. 80: 225 ff 3 Owen OE et al. (1967): Brain metabolism during fasting, J Clin Invest. Vol. 46: 1589-95 4 Cahill GF (2003): Ketoacids? Good Medicine? Transactions of the ACCA, Vol. 114
  3. Brosnan J (1999): Comments on metabolic needs for glucose and the role of gluconeogenesis. Eur. J. Clin. Nutr. Apr; 53 Suppl 1: 107-11
  4. Cahill GF et al. (1980): Alternate Fuel Utilization by Brain. In: Janet V et al. (Editors): Cerebral Metabolism and Neuronal Function. Wiliams & Wilkins, London
  5. Holm E (2007): Stoffwechsel und Ernährung bei Tumorkrankheiten: Analysen und Empfehlungen, Thieme Verlag
  6. Isayev O ( 2014): Inhibition of glucose turnover by 3-bromopyruvate counteracts pancreatic cancer stem cell features and sensitizes cells to gemcitabine. Oncotarget, Jul 15;5(13):5177-89